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Patrick Salmen – Tabakblätter und Fallschirmspringer


Ein neues Buch. Ein neues Buch. Patrick Salmen. Natürlich kannte ich Patrick Salmen. Von Youtube-Videos, oder dem Slam 2012. Ich wusste genau, was mich erwarten würde. Deftiger Humor a la „Euphorie, Euphorie“. Ich las die erste Seite und bemerkte: Es gibt zwei Patrick Salmens.

Tabakblätter und Fallschirmspringer ist nicht nur anders als alles, was ich bisher von dem Slammer gewohnt war, sondern sticht auch aus den Regalen von Einheitsliteratur heraus. Wenn die Welt ausnahmsweise mal nicht kurz vor der Apokalypse steht, das Böse Urlaub hat und das Übermenschliche nicht existiert, dann fängt man an Dinge wahrzunehmen, die sonst im Gedränge der Massen untergehen. Da zwitschert auf einmal ein kleiner Vogel in einer wunderschönen Melodie. Da bemerkt man auf einmal den Geruch nach frischem Gras. Dann ist das Wichtigste: Das Leben. Und darum geht es in diesem Buch.

Alle Geschichten sind unaufdringlich und kommen ohne Maschinengewehre, Atombomben oder andere Spezialeffekte aus. Sie versuchen im Stillen eine Geschichte von vergessenen Menschen oder Dingen zu erzählen und den Leser ein wenig zu bewegen.

Durch die Distanz, aus der er einige Texte erzählt, und den teils nur beschreibenden Schreibstil werden diese für den Leser hochemotional. Die Gefühle, die eigentlich durch den Erzähler vermittelt werden, entstehen so z. B. mit Hilfe von Klang- oder Farbbeschreibungen bei dem Leser direkt.

Es geht um verpasste Chancen, Rückblicke auf die Vergangenheit, zerliebte Paare und wertvolle Gegenstände, hinter denen wunderbare Geschichten stecken. Dabei verfällt der Erzähler immer wieder in Landschafts- und Gegenstandbeschreibungen, die der geneigte „Krach, Bumm“-leser gerne einfach überspringt, die aber traumhafte Situationen erzeugt, die man mit jedem Atemzug spüren kann.

Patrick Salmen benutzt eine ganz eigene Sprache. Er umschreibt Dinge lieber durch selbstzusammengesetzte Substantive als durch vorgefertigte Adjektive. Viele Wörter sind eigene Wortneuschöpfungen (wie „zerliebt“). Somit betätigt er sich in diesem Buch nicht nur als Benutzer, sondern auch als Architekt der Sprache.

Bei der großen Anzahl an vielsilbigen Wörtern und geballten Ansammlung von Impressionen fällt es leider teilweise schwer, den Sätzen zu folgen. So kommt es oft vor, dass man sich den letzten Absatz noch einmal komplett durchlesen muss, weil man feststellt, dass man bei lauter Vogelgezwitscher und Regengeplätscher nicht mehr weiß, worum es eigentlich in dem Text geht. So ist es vielleicht keine gute Idee dieses Buch in der Mittagsmüdigkeit durchzulesen, weil man dann wahrscheinlich vor lauter Wortgewalt auf einem Haufen nur Rauschen versteht und nach zwanzig Minuten erst eine Seite geschafft hat.

Tabakblätter und Fallschirmspringer setzt sich durch seine leise, fast schüchterne, aber auf jeden Fall verträumte Art deutlich von der grauen Papiermasse ab und die erste Publikation von Lektora in meiner Sammlung, die ein Inhaltsverzeichnis an der korrekten Stelle hat (am Anfang, nicht am Ende).


Fazit: Mir ist es sehr schwer gefallen, eine Rezension zu diesem Buch zu verfassen. Ich habe es deutlich schneller und intensiver verschlungen als die vorherigen Sammlungen. Die Texte haben alle irgendwie etwas miteinander zu tun (und werden liebevoll sanft miteinander verwebt) – man muss sich also nicht in jedem Text auf etwas Neues einlassen –, sodass man die Texte beinahe ohne Pausen nahtlos hintereinander lesen kann. Ich habe mir diesesmal auch keine Notizen zu dem Buch gemacht, weil mich das beim Lesen abgelenkt und aus meinen Gedankenbildern geworfen hätte. Das fällt beim Kritikschreiben leider nun auf.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, gerade wegen dem Leisen und Ruhigen, das jede einzelne Geschichte vermittelt. An einigen Stellen (wie meiner Geschichtsempfehlung unten) kam ein wenig ein Gefühl auf, dass sich am besten mit dem altgriechieschen Konzept der „Katharsis“ beschreiben lässt. Es hat gut getan, die bewegenden (trotz teils sehr alltäglichen) Geschichten der Menschen zu erfahren. Die Erzählungen spiegeln viele Situationen im Leben wieder und geben einem wichtige Fragen mit auf den Weg, mit denen man sich immer mal wieder auseinandersetzen sollte. Zum Beispiel: „Worauf willst du am Ende deines Lebens zurückblicken?“
Jedem, der Landschaftsbeschreibungen öde und Geschichten, in denen etwas gewöhnliches, beinahe alltägliches passiert, langweilig findet, ist vom Kauf dieses Buches abzuraten. Doch wer sich darauf einlässt und über das Buch im Stillen nachdenkt, der kann vieles mitnehmen und vielleicht sogar an einigen Stellen eine Entscheidungshilfe für sein Leben haben.

Dringende Leseempfehlung: „Die Dame mit dem roten Hut“.


Daten:
Name: Tabakblätter und Fallschirmspringer
Autor: Patrick Salmen
Verlag: Lektora, Paderborn
Seitenanzahl: 144
Genre: Überwiegend Gedankenverlorenes und sanfte Kurzgeschichten
ISBN: 978-3-938470-80-0

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