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Tiefer Schmerz - Arne Dahl

Die A-Gruppe rettet mal wieder die halbe Welt. Arne Dahls vierter Kriminalroman Tiefer Schmerz treibt Arto Söderstedt durch ganz Europa. Ein neuer spannender Fall, dessen Mysterium bis kurz vor Schluss anhält.


Nach „Falsche Opfer“ scheint Arne Dahl einem Verbrechenswahn verfallen zu sein. Die drei Handlungsstränge des Vorgängers galt es zu toppen, und so entsteht ein ausgeklügeltes Konstrukt, dass an einigen Stellen ein wenig zu konstruiert wirkt.
Im Tierpark Skansen werden ein paar Menschenfleischstücke gefunden. Die dortigen Vielfraße scheinen in den Tagen zuvor nicht gefüttert worden zu sein, denn sie verputzen alles bis auf wenige Einzelteile. Gleichzeitig fliehen einige Einwanderer, die im Asylheim auf ihre Formausweisung warten. Zwischendurch wird noch jemand vom Zug überrollt und in Teilen am Bahnsteig verteilt. Alles hängt irgendwie miteinander zusammen. Klingt komisch, ist aber so.

Erneut schöpft Arne Dahl aus dem Vollem. Wer hat nicht alles seine Finger mit im Spiel. Die osteuropäische Mafia natürlich, aber auch die italienische Mafia. Die Spuren reichen sogar zurück bis ins dritte Reich.


Da verschmilzt zum ersten Mal in der Serie Fiktion mit Wirklichkeit. Arne Dahl hat sich sehr gut über die Nazi-Zeit informiert, zeigt Sachkenntnisse über die Struktur in der SS und den Konzentrationslager und geht außerordentlich würdevoll mit diesem Thema um – wenn man das so nennen kann. Ich hab mich zuerst gefragt, ob er nicht zu weit geht, wenn er ein fiktives Tagebuch eines Buchenwaldinsassen ausformuliert, schließlich maßt er sich damit in irgendeinerweise an, zu wissen, wie es dort gewesen sein muss. Aber in dem gesamten Roman schreibt er mit solch einer würdevollen Art, dass das Gefühl, er könne irgendwen angreifen, schnell wieder verklingt. Außerdem fand ich es sehr interessant, etwas über die Rolle der Skandinavier im zweiten Weltkrieg zu erfahren.

Doch noch etwas ist neu. Es gibt einen Erzähler. Nicht nur jemanden, der in die Charaktere hineinsieht und aus ihrer Sicht das Geschehen beschreibt. Jemanden, der in die Zukunft schaut und dem Leser den Höhepunkt schon vorher erzählt. Das haben die anderen Bücher nicht gebraucht, und das brauchte auch dieses Buch nicht. Der Effekt verklang auch genauso schnell wieder wie er aufgetaucht ist.

Im Vergleich zu den früheren Fällen, in denen immer wieder ein kleines Stückchen Rätsel aufgelöst wird, baut Arne Dahl ein Mysterium auf, das er solange aufrecht erhält wie nur eben möglich. So geht das Ermittlerteam nach gelesenen 350 Seiten immer noch davon aus, dass die griechischen Rachegöttinnen Erinnyen die Morde verübt haben. Aber dann geht es richtig zur Sache. Die letzten Kapitel fackeln ein Feuerwerk nach dem nächsten ab und treiben den Leser zum Ende des Buches. Und trotzdem erlaubt er dem Leser, eine halbe Seite vor den Paul Hjelm und seinen Kollegen auf eine Idee zu kommen, die sich bewahrheitet. Nicht mehr und nicht weniger. Geschickt.

Die Charaktere sind so gut, dass ich selbst gerne in der Abteilung für Verbrechen von internationalem Ausmaße arbeiten würde. Die verwirrende, rasante Beziehung zwischen Kerstin Holm und Paul Hjelm, Gunnar Nyberg, der versucht seinen Kindern wieder ein Vater zu sein, durch durch ein One-Night-Stand zum Spätvater gewordene Viggo Norlander. Das lockert die Handlung immer wieder auf und ist eigentlich auch der wahre Reiz am Buch. Auch wenn die Geschichte natürlich auch ein Knaller war.

Die Struktur der Kapitel ist schnell erzählt. Einzeln werden in verschiedenen Bereichen neue Informationen gesammelt und im Plenum wird alles gesammelt und die verrücktesten Szenarien kreiert. In den Szenen überschlägt sich Arne Dahl meistens mit seinem Humor. Natürlich an einigen Stellen ist die Pointe schon vorhersehbar und die Gags folgen auch meistens einem Schema, aber ich kann mich immer wieder über die Exkremente von Jan-Olov Hultin freuen.

Diesesmal würde ich der Geschichte ein zu hohes Maß an Konstruktion vorwerfen. Es ist nicht nötig, dass alles zusammenläuft und alle mit jedem etwas zu tun gehabt hatten. Es hätte auch vergebliche Spurenverirrungen geben können, die ins nichts führen und es hätte auch ein anderer Täter sein können, ohne das das Dopamin im Kopf ausbleibt. So hat es ein wenig die Realitätsnähe verloren. Sei's drum.
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Eine Steigerung in der Konstruktion von „Falsche Opfer“. Allerdings auch ein sehr interessantes Thema und spannende Fälle, die einiges an Recherche erforderten. Alles in allem schafft es Arne Dahl gut, den Holocaust in seine Fiktion einzubauen, ohne dass es Missbrauch zum Zwecke der Unterhaltung ist. Ich habe so viel über die Judenvernichtung gelernt wie in keinem Geschichtszusatzkurs in der Oberstufe. Dennoch vergisst er den Roman dabei nicht und schreibt eine genial ausgedachte Geschichte, dessen letzte einhundert Seiten unbedingt in einem Satz durchgelesen werden müssen – auch wenn der Rücken anfängt, sich zu beschweren.

 

 Daten:

Titel: Tiefer Schmerz

Autor: Arne Dahl

Genre: Kriminalroman

Verlag: Piper

411 Seiten

Preis: 9,95€

ISBN:  978-3-492-24697-2

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